6. und 7. Kapitel

Sanathana Sarathi 7/2021.

Im Palast angekommen erkundigte sich Vidura nach dem Wohlergehen eines jeden seiner Verwandten. Dann kam Kunti Devi, die Königinmutter, herein, umfing ihn mit liebevollen Blicken und sprach: „Endlich ist es uns vergönnt, dich zu sehen, ohVidura!“ Mehr konnte sie nicht hervorbringen.

Nach einer Weile begann sie wieder: „Wie konntest du so lange fortbleiben, ohne dich um die Kinder zu kümmern, die du mit so viel Liebe aufgezogen hast, und ohne an mich und die anderen zu denken, die dich so verehren? Dank deiner Gnade sind meine Kinder nun Herrscher über dieses Land. Wo wären sie nun, wenn nicht du sie aus manch gefährlicher Lage gerettet hättest? Manches Unglück hat uns heimgesucht, das größte Unglück aber war deine Abwesenheit. Das hat uns am stärksten getroffen. Selbst die Hoffnung, dich noch einmal zu sehen, war in uns erloschen. Jetzt blühen unsere Herzen wieder auf. Unsere von Verzweiflung zersplitterten Bestrebungen und Hoffnungen vereinen sich wieder. Heute ist unser Glück endlich vollkommen. Oh, welch glücklicher Tag!“ Kunti verstummte und wischte ihre Tränen fort.

Vidura hielt ihre Hände, aber auch er konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Er erinnerte sich der mannigfaltigen Ereignisse, die sich in der Vergangenheit der Kaurava- und Pandava-Sippen zugetragen hatten. „Mutter Kunti Devi“ sprach er, „wer kann den Fügungen des Schicksals entgehen? Was geschehen muss, geschieht. Die guten und schlechten Taten der Menschen zeitigen gute und schlechte Ergebnisse. Wie kann man sagen, der Mensch sei frei, wenn er durch dieses Gesetz von Ursache und Wirkung gebunden ist? Er ist eine Marionette in den Händen dieses Gesetzes, es zieht an den Fäden und bestimmt die Bewegungen. Unsere Vorlieben und Abneigungen haben keine Bedeutung. Alles ist Gottes Wille und seine Gnade.“ Während Vidura so die grundlegenden spirituellen Wahrheiten auslegte, die das Menschenleben bestimmen, saßen die Brüder Dharmaraja, Bhima, Nakula und Sahadeva dicht bei ihm und hörten aufmerksam zu.

Kunti hob schließlich den Kopf und sprach: „Durch deinen Segen haben wir den Krieg gewonnen, aber es lag nicht in unserer Macht, Subhadras Sohn und die Söhne Draupadis zu retten. Das Unglück hat uns schwer heimgesucht. Natürlich hast du recht: Niemand kann seinem Schicksal entrinnen. Nun gut, lass uns das Vergangene vergessen. Es ist sinnlos, sich über etwas zu grämen, was nicht mehr zu ändern ist. Ich muss sagen, dass der Durst meiner Sehnsucht nun beträchtlich erleichtert wurde, denn ich durfte dich nun endlich sehen. Wo bist du die ganze Zeit gewesen? Erzähle!“

Vidura erwiderte, er habe eine Pilgerreise zu einer Reihe heiliger Stätten unternommen. Hingerissen lauschten die Brüder seinem Bericht und überhäuften ihn mit Fragen. Dharmaraja betonte, dass er kaum den Tag erwarten könne, an dem auch er alle diese heiligen Erfahrungen durchleben dürfe. Wann immer Vidura ein bestimmtes Heiligtum erwähnte, faltete Dharmaraja anbetend die Hände und stellte sich mit geschlossenen Augen den heiligen Ort vor. „Warst du in Dvaraka?“, warf Bhima ein. „Bitte erzähle uns, was du dort erlebt hast!“ Auch Dharmaraja schaltete sich ein: „Du musst doch Krishna, den Herrn, dort angetroffen haben? Berichte uns bitte ganz ausführlich, was geschah!“ Auch Kunti Devis Neugier wurde geweckt, und sie sprach: „Ja, erzähle uns alles! Mein Sohn ist jetzt dort, du musst auch ihn gesehen haben. Wie geht es allen? Den alten Eltern Nanda und Yashoda geht es hoffentlich gut? Und wie geht es Devaki und Vasudeva?“ Vidura wurde mit Fragen überschüttet, noch bevor er anheben konnte zu sprechen.

Er war auch nicht allzu eifrig bemüht, die Fragen zu beantworten. Er sprach, als wolle er vermeiden, zu tief in dieses Thema verwickelt zu werden. Auf dem Wege nach Dvaraka hatte er von Uddhava, Krishnas Vertrautem, erfahren, dass der Yadava-Stamm ausgestorben war und Krishna seine menschliche Laufbahn beendet hatte. Vidura wollte den Pandavas keinen Schmerz zufügen, nun, da die Freude über das Wiedersehen nach so langer Zeit sie gerade aufgerichtet hatte. „Warum sollte ich, der ihnen so viel Freude bereitet hat, ihnen die Freude wieder nehmen?“, sagte er sich. „Sie werden es ja doch von Arjuna erfahren, der mit der traurigen Botschaft von Dvaraka wiederkehren wird.“ So behielt er die Nachricht zurück, die ihm immer wieder auf der Zunge lag, und begnügte sich damit, sich selbst und die anderen mit der Beschreibung von Krishnas Herrlichkeit zu beglücken. „Ich wollte die Freunde und Verwandten nicht in diesem Asketengewand aufsuchen“, sprach er, „daher habe ich keinen der Yadava-Führer getroffen und Nanda, Yashoda und die anderen auch nicht.“ Das war alles, was er sagte, und weiter ließ er sich nicht über Dvarakaund seine Pilgerfahrt aus.

„Ich bin hergekommen“, fuhr er fort, „weil ich erfuhr, dass ihr den Krieg gewonnen habt und endlich in Frieden euer rechtmäßig ererbtes Königreich regiert. Ich fühlte mich zu diesen Kindern hingezogen, die ich von ihren frühesten Jahren an erzogen habe. Die Zuneigung zu ihnen hat mich hierher gebracht. Von allen Verwandten und Freunden lockte es mich einzig euch zu sehen, sonst wollte ich niemanden besuchen.“ Mit diesen Worten ging er auf die Lehren des Vedanta über, die er gern mitteilen wollte. Am Ende der Unterhaltung bat Dharmaraja, Viduramöge doch die für ihn hergerichteten Gemächer beziehen, und er geleitete ihn selbst dorthin.

Er wählte einige Leute aus, die er beauftragte, Vidurazu bedienen und bat ihn, hier auszuruhen. Vidura gefiel der Gedanke, seine Zeit an solch luxuriösem Orte zuzubringen, nicht sonderlich. Um aber Dharmaraja nicht zu enttäuschen, bezog er das Haus. Er streckte sich auf dem Lager aus und ließ die Vergangenheit vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. Er seufzte, als ihm bewusst wurde, dass die Machenschaften, die sein blinder Bruder Dhritarashtra ersonnen hatte, um die Pandavas, die Kinder seines Bruders Pandu, zu vernichten, auf ihn selbst zurückgefallen waren und die Auslöschung seiner eigenen Sippe bewirkt hatten. Er bewunderte Dharmarajafür die Großherzigkeit, die er Dhritarashtra erwies, obwohl dieser die Pandavas auf mannigfache Weise gequält hatte. Dharmaraja verehrte ihn mit großem Glauben und tiefer Ergebenheit und tat alles für seine Bequemlichkeit. Vidura empfand äußerste Abscheu, als er sich die Schlechtigkeit von Dhritarashtras Herz vor Augen führte. Er schämte sich für den alten Mann, der in aller Seelenruhe im Luxus des Palastes schwelgte, statt sich um Loslösung von den nichtigen Sinnesfreuden zu bemühen und die Verwirklichung des Zieles menschlichen Lebens, nämlich Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod, anzustreben. Dass sein Bruder die wenigen ihm noch verbleibenden Jahre auf Erden vergeudete, bereitete ihm unerträgliche Pein.

Die Hellsichtigkeit, die er als Yogi erlangt hatte, offenbarte ihm, dass auch die Pandavas bald nicht mehr da sein würden. Krishna, der sie auf Erden behütet hatte, würde auch im Jenseits hervorragend für sie sorgen. Der blinde König jedoch würde nach dem Fortgang der Pandavas noch mehr leiden. Als Vidura dies bedachte, beschloss er, diesen unglückseligen Bruder auf eine Pilgerreise zur Vollendung und Verwirklichung seines Schicksals zu senden, und zwar unverzüglich. So glitt er schnell hinaus in die Dunkelheit und begab sich unbemerkt geradewegs zu DhritarashtrasGemächern.

Der blinde König und Gandhari, seine Königin, hatten natürlich erwartet, dass Vidura sie aufsuchen würde, denn auch sie hatten erfahren, dass er in die Stadt gekommen war. Als Vidura nun hereinkam, umarmte Dhritarashtra ihn unter Freudentränen. Er konnte nicht an sich halten, zählte eine Katastrophenach der anderen auf, die ihn und seine Kinder heimgesucht hatten, und beklagte sein Schicksal. Vidura suchte ihn mit den tiefen Weisheiten der heiligen Schriften zu trösten. Doch er entdeckte bald, dass das versteinerte Herz des Alten nicht durch die Anwendung kühler Ratschläge schmelzen würde, und er merkte, dass die Dummheit dieses Mannes nur mit harten Schlägen zu heilen war.

 So begann er, eine andere Tonart anzuschlagen und verlegte sich auf Vorwürfe und Beschimpfungen. Das rüttelte Dhritarashtra auf. „Bruder“, protestierte er, „wir brennen vor Schmerzen über den Verlust unserer hundert Söhne, und du stichst noch mit den Lanzen deiner bösen Beschimpfungen in unsere Wunden! Noch bevor wir die Freude über unser Wiedersehen nach so langer Zeit auskosten können, versuchst du, uns noch tiefer ins Leid zu stürzen. Warum tust du das? Ach, warum soll ich dir Hartherzigkeit vorwerfen? Alle lachen mich aus, jeder schiebt mir die Schuld zu; es steht mir nicht zu, dich zu kritisieren.“ Dhritarashtra senkte den Kopf und schwieg.

Vidura erkannte, dass dies der günstigste Augenblick war für eine Lektion in Entsagung, die einzige Möglichkeit, ihn vor der Verdammnis zu retten. Er wusste, dass er nun in bester Absicht handelte, denn er wollte, dass sie auf eine Pilgerfahrt gingen, um sich mit Heiligkeit zu erfüllen und große und gute Menschenseelen zu treffen. Sie sollten Gott, den Herrn, in ihrem Inneren erkennen und auf diese Weise Erlösung finden. Daher entschloss er sich zu noch härteren Worten, um Dhritarashtra und die Königin umzustimmen. Obwohl ihre augenblickliche Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ihn mit Mitleid erfüllte, bedachte Vidura doch die kommenden Tage der Not, in denen sie allen Mut brauchen würden, den nur höchstes Wissen (jnāna) allein ihnen verleihen konnte. Darum war er fest entschlossen, sie zum Handeln anzustacheln.

„Oh, du törichter König!“, sprach er. „Schämst du dich nicht? Können dir irdische Vergnügungen noch Freude bereiten? Was bringt es dir, dich in Staub und Schmutz zu wälzen, bis du stirbst? Ich denke, nun ist’s mehr als genug. Die Zeit ist eine Kobra, die auf der Lauer liegt, bereit, dir den Todesbiss zu versetzen! Und du wagst noch zu hoffen, dass du ihr entkommen und ewig leben kannst! Noch nie ist jemand, ganz gleich wie groß und mächtig, diesem tödlichen Biss entkommen. Du läufst in dieser vergänglichen Welt dem Glück hinterher und versuchst, ein bisschen armselige Befriedigung deiner Wünsche zu erlangen. Du vergeudest wertvolle Jahre! Verleihe deinem Leben Bedeutung. Noch ist es nicht zu spät, dir einen Ruck zu geben. Gib diesen Käfig auf, den du dein Zuhause nennst. Schlag dir die schäbigen Vergnügungen dieser Welt aus dem Kopf. Denk an die Freude, die dich erwartet, an die Welt, die dich am Ende dieser Reise begrüßt. Befreie dich! Entziehe dich dem törichten Los, dieses Leben im Schmerz der Trennung von Familie und Freunden zu beenden. Lerne zu sterben mit dem Gedanken an den Herrn, der im Augenblick des Dahinscheidens an erster Stelle stehen soll. Freudig im tiefsten Dunkel des Waldes zu sterben, ist viel besser, als leidend im Palast dieser Hauptstadt dahinzuschwinden. Geh! Geh und tu Buße! Fort von diesem Ort, diesem Gefängnis, das du dein Heim nennst!“

Weiter ermahnte Vidura Dhritarashtra: „Du hast das vorgerückte Alter erreicht und führst dennoch schamlos und ohne zu zögern das Leben eines Hundes! Vielleicht schämst du dich nicht dafür, ich aber wohl! Schande über dich! Deine Art, die Tage zu verbringen, ist schlimmer als die einer Krähe.“

Mehr konnte Dhritarashtra nicht ertragen. „Genug, genug!“, rief er, „Bitte, hör auf! Du quälst mich zu Tode. So spricht man doch nicht mit seinem Bruder. Wenn ich dich so reden höre, kann ich nicht glauben, dass du Vidura, mein Bruder, bist. Der würde mich doch nicht so grausam schelten. Ist denn Dharmaraja, bei dem ich jetzt lebe, ein Fremder? Habe ich denn bei einem Unbekannten Zuflucht genommen? Was sagst du da? Warum diese harten Worte? Dharmaraja umsorgt mich mit großer Liebe und Zuneigung; wie kannst du da behaupten, dass ich ein Bettlerleben wie ein Hund oder eine Krähe führe? Wenn du solche Gedanken hegst, so versündigst du dich! Dies ist nur mein Schicksal, und sonst nichts.“ Dhritarashtra senkte stöhnend den Kopf.

Vidura lachte spöttisch. „Hast du denn keinerlei Schamgefühl, so zu sprechen? Wenn Dharmaraja aus reiner Güte besser für dich sorgt als für seinen eigenen Vater, wenn er dich mit mehr Liebe umhegt, als deine eigenen Söhne es tun, so spiegelt das nur seinen guten Charakter wider. Es beweist, wie großartig er der Bedeutung seines Namens gerecht wird. Aber solltest du nicht selbst für deine Zukunft sorgen? Mit einem Bein stehst du schon im Grabe, und immer noch füllst du dir in blinder Bequemlichkeit den Magen und räkelst dich im Überfluss. Denk einmal einen Moment lang daran, wie du Dharmaraja und seine Brüder gepeinigt hast, um den üblen Absichten deiner bösartigen Söhne zu dienen, und wie du eine List nach der anderen zu ihrer Vernichtung ersonnen hast! In ein Haus aus Wachs hast du sie gesteckt und dieses dann angezündet; vergiften wolltest du sie! Ihre Königin hast du auf die niedrigste Weise vor einer riesigen Versammlung beleidigt. Zusammen mit deiner abscheulichen Brut hast du den Söhnen Pandus, deines eigenen Bruders, einen Schmerz nach dem anderen zugefügt. Du blinder, seniler, dickhäutiger Elefant! Auf dem Thron hast du gesessen und ständig alle, die um dich waren, gefragt: ‚Was geschieht jetzt? Was geht nun vor sich?‘ Wie kannst du hier bleiben und DharmarajasGastfreundschaft genießen, wenn du an die Schandtaten denkst, die du zu seiner Vernichtung ersonnen hast? Als du ihren Tod plantest, waren sie da nicht mehr deine Neffen? Oder wurden sie erst jetzt zu deinen Neffen, seit du bei ihnen wohnst? Und du erzählst mir so stolz und ohne Scham, dass sie dich gut behandeln!

Wozu so viele Worte machen? Das verhängnisvolle Würfelspiel fand doch auch auf dein Betreiben hin statt, oder etwa nicht? Willst du das leugnen? Nein! Ich war Zeuge dieses Spiels. Ich habe dir damals abgeraten, aber hast du dir meinen Rat zu Herzen genommen? Wo waren denn da das Mitgefühl und die Liebe, die du nun so freigiebig verströmst? Nun verschlingst du wie ein Hund das Futter, das die Pandavas dir vorsetzen, und führst ein verabscheuungswürdiges Leben!“

Diese Worte Viduras, die ihn wie schmerzhafte Hammerschläge trafen, bewirkten, dass in Dhritarashtra ein Widerwille gegen seinen Lebenswandel erwachte. Vidura beabsichtigte, ihn zu einem gottgeweihten Einsiedlerleben anzuspornen, damit er zu sich selbst fände, bevor es zu spät war. Endlich merkte Dhritarashtra, dass Vidura die reine Wahrheit sprach und ihm ein wahres Bild seiner niederträchtigen Natur vorhielt. „Bruder“, sprach er, „jawohl, alles, was du gesagt hast, ist wahr, ich muss es einsehen. Ich habe es jetzt erkannt. Doch was soll ich tun? Ich bin blind und kann daher nicht allein in die Waldeinsamkeit wandern, um dort in mich zu gehen. Ich brauche einen Gefährten. Was soll ich tun? Aus Angst, dass ich Hunger leiden könnte, lässt Gandhari mich keinen Augenblick allein.“

Vidura sah, dass Dhritarashtra seine Einstellung geändert und einen Lichtschein erblickt hatte. Daher betonte er nochmals seinen Ratschlag und sprach: „Blind bist du vor allem geworden, weil du so an deinem Körper hängst. Wie lange kannst du den mit dir herumschleppen? Irgendwo, irgendwann muss er am Wegrand zurückgelassen werden. Wisse, dass du nicht dieser Körper bist, nicht dieses Bündel übelkeitserregender Dinge. Dich mit der körperlichen Erscheinung zu identifizieren ist ein Zeichen äußerster Dummheit. Ständig belagert der Tod mit seinem Heer von Krankheiten den Körper. Doch du bist dir dessen nicht bewusst, erwägst nicht das Für und Wider; du schläfst  aus und schnarchst. Bedenke, dass dieses Schauspiel auch ein Ende hat! Irgendwann muss der Vorhang fallen. Darum eile ohne Zögern an eine heilige Stätte, meditiere über Gott und rette dich. Lass dort den Tod kommen und deinen Körper davontragen, das ist der allerbeste Abschluss. Stirb nicht wie ein Hund oder Fuchs irgendwo und irgendwie. Steh auf und geh! Lerne loszulassen! Gib diese Täuschung auf, raffe dich auf und verlasse dieses Haus!“

So wurde im Herzen Dhritarashtras der Same der Entsagung gesät. Lange dachte er nach, dann brach er in Tränen aus. Seine Lippen bebten, und seine Hände tasteten nach allen Seiten, um Vidura zu finden. Schließlich hielt er dessen Hände und sprach: „Vidura! Was kann ich dir erwidern? Du hast mir den wertvollsten Rat gegeben, der sich zu meinem Besten auswirken wird. Obwohl du an Jahren jünger bist, macht deine Weisheit dich zum Ältesten von uns allen. Dir steht es völlig zu, so zu sprechen, wie du es für richtig hältst. Betrachte mich nicht als Außenstehenden. Hab Geduld und höre mich an. Ich werde sicher deinem Rat folgen.“ Dann begann Dhritarashtra, seinem Bruder seine Lebensumstände darzulegen.

„Vidura“, sprach er, „wie kann ich von hier fortgehen, ohne Dharmaraja Bescheid zu geben, der besser für mich sorgt als ein Sohn? Es wäre nicht recht, einfach so davonzugehen. Dann könnte es aber sein, dass er darauf besteht, mit uns zu gehen; so ist er nun einmal. Du musst mich aus diesem Zwiespalt befreien. Bring mich irgendwohin, wo ich mich dem Sadhana widmen kann.“

Auf diese Bitte entgegnete Vidura: „Was du da sagst, klingt merkwürdig. Du gehst nicht in die Wälder, um an Festessen teilzunehmen, einen Karneval zu erleben oder die Schönheit der Landschaft zu genießen. Du gibst alles auf, im vollen Bewusstsein der Entsagung! Du beginnst ein Leben der Buße und der spirituellen Disziplin, und im selben Atemzuge sprichst du von ,um Entlassung bitten‘ und ,Abschied nehmen‘ von Verwandten und Bekannten! Das ist sonderbar. Du beschließt, deinen Körper aufzugeben, um dem höchsten Ziel nachzugehen, und gleichzeitig überlegst du, wie du dazu Erlaubnis einholen kannst von Menschen, die über körperliche Bande mit dir verwandt sind. Diese Bindungen sind dem Sadhana nicht dienlich. Sie können dich niemals befreien. Schnür sie zusammen und lass sie in der Versenkung verschwinden. Verlass diesen Ort mit nichts weiter als den Kleidern, die du trägst. Vergeude nicht einen Augenblick deines Lebens!“

Gnadenlos und ohne die Tonart zu wechseln, gab Vidura ihm seinen Rat und betonte die Wichtigkeit sofortigen Verzichts. Dhritarashtra saß auf seinem Lager, hörte aufmerksam zu und überlegte den nächsten Schritt. „Vidura“, sagte er, „du hast völlig recht. Ich brauche dir nichts über meine besonderen Schwierigkeiten zu erzählen. Dieser Körper ist hinfällig, die Augen sind blind. Ich brauche doch wenigstens irgendjemanden, der mich führt, nicht wahr? Deine Schwägerin hat ihre Augen mit einem Verband ,erblinden‘ lassen, um meine Behinderung zu teilen und auf die gleiche Weise zu leiden. Wie können wir beiden Blinden im Wald umherziehen? Wir mussten uns unser Leben lang auf andere verlassen.“

Vidura sah, wie dem alten Manne die Tränen über die Wangen liefen. Er hatte Mitleid mit seinen Qualen, doch ließ er es sich nicht anmerken, sondern sprach beruhigend: „Nun, ich will euch gern in den Urwald bringen. Ich bin bereit. Was könnte schöner für mich sein, als dich zu diesem heiligen Zweck von hier zu befreien. Komm, steh auf, komm mit!“ Vidura stand auf. Auch Dhritarashtra erhob sich von seinem Lager. Gandhari stand neben ihm, eine Hand auf seine Schulter gelegt, und bat: „Herr, ich will mit euch gehen, ich bin zu allem bereit!“

Dhritarashtra jedoch sprach: „Oh, es ist sehr schwer, Frauen im Urwald zu behüten. Dort wimmelt es von wilden Tieren, und das Leben ist voller Entbehrungen.“ In dieser Art sprach er noch lange weiter, aber sie wandte ein, dass sie ihren Herrn und Gebieter nicht verlassen könne. Entbehrungen könne sie ebenso gut ertragen wie er, und es sei ihre Pflicht, ihm bis zum Tode zu dienen; sie folge hiermit nur den von den Juwelen der indischen Weiblichkeit errichteten Traditionen. Es entspräche nicht dem Dharma, sie an der Erfüllung ihres Dharma zu hindern. Ohne ihren Herrn in den Frauengemächern des Palastes zu leben würde sie nicht ertragen, viel lieber wolle sie mit ihm im Dschungel leben. Sie bat ihn inständig um Erlaubnis, ihn zu begleiten.

Dhritarashtra blieb stumm, er wusste nicht, was er sagen sollte. Dafür ergriff Vidura das Wort: „Jetzt ist nicht die Zeit, sich in Spitzfindigkeiten über die Auslegung des Dharma zu ergehen. Wie könnte diese Frau, die nie einen Augenblick ohne dich zugebracht hat, dich plötzlich verlassen und von dir getrennt leben? Das wäre nicht recht. Lass sie mitgehen. Wir nehmen sie mit. Für alle, die sich zur Buße aufmachen, sollte es weder Angst noch Verblendung geben, weder Hunger noch Durst, keinen Schmerz und kein Leiden. Solches zu beklagen oder zu erwarten, hat nichts mit Buße zu tun. Was scheren dich Entbehrungen, wenn du der körperlichen Existenz entsagen willst? Komm, es gibt keinen Grund zu zögern.“ Vidura setzte sich in Bewegung und führte Dhritarashtra, in aller Stille gefolgt von Gandhari, deren Hand auf der Schulter ihres Gatten lag.

Unbemerkt von Wächtern und Bürgern führte Vidura, der heilige Jünger des Herrn, das Paar durch Seitenstraßen hinaus aus dem Stadtbezirk. Er trieb sie zur Eile an, denn er wollte den Wald noch vor Tagesanbruch erreichen. Zuvor musste jedoch noch der Ganges mit einem Boot überquert werden, und weit und breit war kein Fährmann zu finden, der sie vor Sonnenaufgang hätte hinübersetzen können. So waren sie gezwungen, am Ufer des heiligen Flusses zu warten. Vidura ließ das Paar ein Weilchen in einer Laube rasten und besorgte ein Boot, das sie dann alle in der Dunkelheit ans andere Ufer brachte.

Quelle: Sanathana Sarathi Juli 2021

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Bhagavata Vahini: Viduras Entsagung und weiser Rat